Ein Gesetz für mehr Gerichtstransparenz

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    • Ein Gesetz für mehr Gerichtstransparenz

      Tom Brägelmann schrieb:

      Ein Gesetz für mehr Gerichtstransparenz


      Weniger als 5 Prozent aller Gerichtsentscheidungen werden jährlich veröffentlicht, leider in schlecht und zugleich übermäßig anonymisierter Form. Da geht mehr – selbstverständlich unter Wahrung des Persönlichkeitsrechts und Datenschutzes.
      Die Anonymisierung von Entscheidungsveröffentlichungen ist nicht der Normalfall. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat kürzlich goldene Worte zur Gerichtsöffentlichkeit gegen eine „der öffentlichen Kontrolle entzogene (…) Geheimjustiz” gefunden; die online veröffentlichte Entscheidung hebt wie folgt an:
      „IM NAMEN DES VOLKES
      In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde
      der Frau (…),
      – Bevollmächtigte:
      (…) – “
      Moment, das waren noch nicht die goldenen Worte. Anscheinend darf keiner wissen, wer mit dieser Verfassungsbeschwerde erfolgreich war. Warum eigentlich nicht? In just derselben Entscheidung hat das Gericht doch zum „allgemeinen Öffentlichkeitsprinzip der Demokratie“ grandios festgestellt:
      „Die Gerichtsöffentlichkeit sollte in Gestalt einer Verfahrensgarantie dem Schutz der an der Verhandlung Beteiligten gegen eine der öffentlichen Kontrolle entzogene Geheimjustiz dienen. (…) Die rechtsstaatliche Komponente der Gerichtsöffentlichkeit zielt darauf, die Einhaltung des formellen und materiellen Rechts zu gewährleisten. Dies soll zur Gewährleistung von Verfahrensgerechtigkeit im Sinne einer Verfahrensgarantie der Beteiligten beitragen.“
      Alle wissen, dass das BVerfG in dem Fall zugunsten einer bekannten Eisschnellläuferin entschieden, also lediglich oberflächlich und reversibel pseudonymisiert hatte, wenn es zum Beispiel schreibt: Die Beschwerdeführerin nahm
      „an der von der (…) in (…) veranstalteten (…)-Mehrkampfweltmeisterschaft teil. Die (…) ist ein Verein schweizerischen Rechts mit Sitz in Lausanne, der als Weltverband für die Sportarten (…) und (…) anerkannt ist…“
      Was soll eine derart drollige Anonymisierung? Warum muss die Sportart geheim bleiben, die Stadt Lausanne hingegen nicht? Dieses Paradebeispiel veranschaulicht ein fragwürdiges Verständnis der Gerichtsöffentlichkeit in der Gerichtspraxis: Es müsse grundsätzlich immer und möglichst viel und breit anonymisiert werden. Stimmt allerdings nicht. Das BVerfG verlangt doch gerade Schutz gegen eine der öffentlichen Kontrolle entzogene Geheimjustiz. Die flächendeckende Anonymisierung von Urteilen und Beschlüssen wird diesem Ideal nicht gerecht.
      Kontext statt Orakelsprüche
      Gerichtsöffentlichkeit herzustellen ist eine Forderung seit der Aufklärung (vgl. zum folgenden Benjamin Lahusen, Rechtspositivismus und juristische Methode, 2011, passim). Die hart erkämpfte Publizität der Justiz bewirkte die Unabhängigkeit von hoheitlicher Einflussnahme und durchbrach die absolute Macht des Regenten. Deswegen müssen Gerichtsentscheidungen samt Begründung veröffentlicht werden. Eine Entscheidung ohne Begründung ist ein Orakel. Entscheidungsbegründungspflichten und strukturierte Entscheidungssammlungen dienen als Bastion gegen richterliche Willkür; ohne sie wäre jeder Richter auf seine eigene Entscheidungspraxis und Zufallsfunde beschränkt. Eine einheitliche Rechtsprechung ist ohne Entscheidungssammlungen undenkbar. Die Begründung und Veröffentlichung von Urteilen und Beschlüssen sind Bestandteil der allgemeinen Gerichtsöffentlichkeit. Auch wenn es für die Parteien selbst womöglich keine Rolle spielt, ob etwa der Bundesgerichtshof anlässlich ihres Falles mal wieder das Recht fortgebildet hat, benötigt die demokratische Öffentlichkeit dennoch alle Entscheidungen im Volltext und mit Kontext zu den konkreten Parteien. Dass der Richter von seiner Urteilskraft vorschriftsmäßig Gebrauch gemacht hat, davon sollen sich schließlich nicht allein die Parteien, sondern alle möglicherweise Betroffenen überzeugen können, also eben auch die Öffentlichkeit (Lahusen).
      Keine Abhilfe für miese Quote
      Ein aktueller Fall kontrastiert das Idealbild einer Gerichtsöffentlichkeit: Wegen einer Veröffentlichung erhielt das gemeinnützige Unternehmen openJur kritische Post der Hamburger Datenschutzbehörde. openJur veröffentlicht online kostenlos Gerichtsentscheidungen – sie sind nicht urheberrechtlich geschützt – um die magere Veröffentlichungsquote zu steigern. So kam eine Untersuchung der etwa 16 Millionen Entscheidungen von 2011 bis 2022 zum Ergebnis, dass nur knapp 373.000 veröffentlicht wurden, was etwa 2,3 Prozent entspricht (vgl. Keuchen/Deuber, RDi 2022, 229, 233).
      Dabei hatte ein Gericht eine Entscheidung geliefert, ohne dass Namen und Adresse einer Partei geschwärzt waren. Zumindest hinsichtlich der Adresse lag damit ein Datenschutzverstoß vor. openJur übersah das, veröffentlichte es und bekam Ärger. Musste openJur die Entscheidung selber weiter anonymisieren? Auch den Namen der Partei? Hätte die Datenschutzbehörde stattdessen nicht vielmehr gegen den Richter vorgehen können? Warum wird gegen einen gemeinnützigen Verfechter für mehr Transparenz in der Justiz amtlich vorgegangen?
      US-Praxis ist großzügig
      Nach jahrelanger Erfahrung als Anwalt in New York City bin ich insofern vorbelastet, als dass ich einen deutlich transparenteren Umgang mit Gerichtsentscheidungen kennengelernt habe. Denn im us-amerikanischen Rechtssystem werden alle Urteile (und anwaltlichen Schriftsätze) im Volltext unter Nennung der Parteinamen veröffentlicht und zwar online und sehr zügig. Das war äußerst hilfreich in der Praxis: Dank Filterfunktion lässt sich ein umfassender Überblick darüber gewinnen, welche Argumentation in Schriftsätzen gefruchtet hat – so kann man effizient von den besten „Ligitators” lernen.
      Zurück in Deutschland überrascht, in welcher digitalen Dunkelheit das deutsche Rechtssystem herumdümpelt. Man muss nicht alles so wie in den USA machen, warum auch? Jedoch sollte man zumindest reflektieren, was dort besser läuft. Wie wichtig es ist, dass auch die Schriftsätze online öffentlich sind, sieht man gerade wunderschön bei Twitters Klage gegen Elon Musk. Direkt auf der zweiten Seite steht: „Musk’s exit strategy is a model of hypocrisy”. So geht Kampf ums Recht. Zum Vergleich: Wenn man doch nur die anwaltlichen Schriftsätze im Rechtsstreit zwischen Hohenzollern und der öffentlichen Hand offiziell online lesen könnte – wurde darin wohl nur in erlesenem Juristendeutsch sittsam subsumiert? Wollen wir’s hoffen. Selber nachlesen darf es die allgemeine Öffentlichkeit nicht. Entspricht das dem „allgemeinen Öffentlichkeitsprinzip der Demokratie“? Nein.
      Eine Pflicht zur Anonymisierung gibt es nicht
      Aber warum anonymisieren denn nun alle deutschen Gerichte die wenigen Entscheidungen, die sie veröffentlichen? Partiell auch noch wirkungslos, denn in bekannteren Fällen wissen alle Kenner der Materie ohnehin, um wen es geht. Von dem Wissen ausgeschlossen bleibt nur die demokratische Öffentlichkeit, der dadurch ihr Recht auf Kontrolle der Justiz erschwert wird. Wo steht das, ausdrücklich, dass die Gerichte alle Entscheidungen anonymisieren müssen?
      Nirgendwo. Es kann sich im Einzelfall aus der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) ergeben, allerdings müsste dies vor jeder einzelnen Entscheidungsveröffentlichung genau geprüft werden. Eine generelle Anonymisierungspflicht aller Entscheidungen lässt sich aus der DSGVO nicht ableiten, da sie in Art. 86 eine Öffnungsklausel für die Offenlegung von personenbezogene Daten in amtlichen Dokumenten enthält. Es kann sich im Einzelfall aus den wichtigen Art. 7 und 8 der EU-Grundrechtecharta (Rechte auf Achtung des Privat- und Familienlebens und auf Schutz personenbezogener Daten), den entsprechenden nationalen Grundrechten und aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht ergeben. Das Recht auf Vergessen und die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zu „Google Spain“, C-131/12 (die personenbezogenen Daten aus früheren Veröffentlichungen in privaten Suchmaschinen betraf) stehen der Entscheidungsveröffentlichung durch den Staat (nicht Private), der sich dafür eine Rechtsgrundlage gibt, auch nicht per se entgegen. Denn alle diese Rechte erfordern im Ergebnis nur eine Einzelfallprüfung und nicht, dass Entscheidungen per Default nie im Volltext mit Nennung der Namen der Parteien veröffentlicht werden dürfen. Abzuwägen ist dies außerdem mit „den Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit“, auf denen der Grundrechtecharta zufolge die EU beruht. Dazu gehört eben auch das erkämpfte Verbot der Kabinetts- und Geheimjustiz und daher die Pflicht – mit zu begründenden Ausnahmen – die Namen (nicht aber Adressen) der Parteien zu nennen. Es muss eine Einzelfallprüfung erfolgen, sicherlich, ob etwas geschwärzt werden muss, aber eine flächendeckende automatische Anonymisierung aller Entscheidungen und Parteinamen wird von keiner Rechtsnorm in jedem Fall verlangt.
    • Fortsetzung:


      Tom Brägelmann schrieb:

      Koalitionsvertrag sieht Veröffentlichung vor
      Allerdings sagt der Koalitionsvertrag, dass man alle Gerichtsentscheidungen anonymisiert veröffentlichen möchte. Nach richtiger Auslegung ist damit nicht gemeint, dass man es als Pflicht sieht, alle Urteile und Beschlüsse anonymisieren zu müssen, sondern dass man überhaupt erst – durch automatische Veröffentlichung und Anonymisierung – erreichen will, dass fast alle Gerichtsentscheidungen in Deutschland endlich mal veröffentlicht werden. Grund: Es handelt sich um ein Bedürfnis deutscher Legal Tech-Unternehmen, deren Wettbewerbsnachteil es ist, dass andere Jurisdiktionen wie beispielsweise aus den USA fast alle Entscheidungen vollständig und online veröffentlichen, sodass man sie leichthin mittels machine learning auswerten kann. Es geht also um eine Bereitstellung von Justiz-Big-Data für die deutsche Legal Tech-Branche, nicht um ein rechtspolitisches Bekenntnis der Koalitionäre zu einer vorgeblich notwendigen flächendeckenden Anonymisierung von Entscheidungen.
      Daher muss die demokratische Öffentlichkeit endlich Zugang zu allen gerichtlichen Entscheidungen, nicht nur zu den knapp 5 Prozent veröffentlichten, erhalten. Diese Öffnung ermöglicht, dass jeder kontrollieren, kritisieren und loben kann, was die Dritte Gewalt so macht und tut. Der Auskunftsanspruch der Presse reicht überhaupt nicht aus, da er erst greift, wenn die Presse schon von einem relevanten Rechtsstreit weiß und das ist nicht immer der Fall. Nach der bisherigen Rechtsprechung sollen nämlich nur die Urteile und Beschlüsse veröffentlicht werden, die den Gerichten „veröffentlichungswürdig” erscheinen. Kann es richtig sein, dass die Gerichte selber entscheiden und prüfen, wann eine Entscheidung veröffentlichungswürdig ist? Nein, es muss der demokratischen Öffentlichkeit überlassen bleiben, welche Entscheidungen der Dritten Gewalt sie für relevant hält. Aber genau diese Funktion wird ihr verwehrt, wenn kaum Entscheidungen veröffentlicht werden und dann auch noch nur anonymisierte.
      Ein Bundestransparenzgesetz
      Der Gesetzgeber muss also handeln. Die Ampelkoalition will sowieso, „[d]ie Informationsfreiheitsgesetze (…) zu einem Bundestransparenzgesetz weiterentwickeln.” Dabei könnte man auch die bestehende Pflicht zur Entscheidungspublikation genau strukturieren und klarstellen, dass die Gerichte grundsätzlich alle Urteile und Beschlüsse schnell online zu veröffentlichen haben, sowie Regeln für die im Ausnahmefall nötige Anonymisierung aufstellen. Denn Entscheidungen aus bestimmten Rechtsgebieten und Verfahren, etwa wegen der besonderen Pranger-Wirkung das (Jugend-)Strafrecht, Sorgerechtsstreitigkeiten und Scheidungen sollten regelmäßig besonders sorgfältig und unumkehrbar anonymisiert werden. Vielleicht darf dann als Ausnahme auch mal eine Veröffentlichung entfallen.
      Privatadressen und Geschäftsgeheimnisse müssen auch geschwärzt werden. Dritte wie openJur, die die offiziell veröffentlichten Entscheidungen in Datenbanken weiterverarbeiten, sollten nicht für eine von der Justiz fehlerhafte vorgenommene Anonymisierung haften. Dazu sollte das Bundestransparenzgesetz endlich eine echte Gerichtsöffentlichkeit über die öffentliche mündliche Verhandlung hinaus schaffen. Denn die Gerichtsöffentlichkeit ist in Deutschland eine Chimäre: Mündliche Verhandlungen sind in Deutschland öffentlich, aber wer als Dritter zu diesen Verhandlungen geht und die Schriftsätze der Parteien nicht kennt, kann häufig nicht verstehen, worum es geht. Das liegt insbesondere daran, dass die Anwälte und das Gericht häufig auf die Schriftsätze Bezug nehmen, ohne daraus viel zu rezitieren. Ebenso sind veröffentlichte Entscheidungen auch deshalb schwer verständlich, weil sie sich immer mehr auf die Schriftsätze der Parteien für Details (§ 313 Abs. 2 Satz 2 ZPO) beziehen, ohne dass diese Schriftsätze allerdings dem veröffentlichten Urteil oder Beschluss beigefügt werden. Insofern kann die demokratische Öffentlichkeit eine veröffentlichte Entscheidung nicht immer gut verstehen, wenn es die Schriftsätze der Parteien nicht kennt. So werden Entscheidungen wieder zu Orakelsprüchen.
      Die Öffentlichkeit hat ein Recht auf Kontrolle
      Auch nach Namen von Prozessparteien und Richtern muss man in Online-Entscheidungsdatenbanken suchen können. Nicht zur wirtschaftlichen Förderung der Legal Tech-Unternehmen. Vielmehr geht es um die Kontrollierbarkeit der Dritten Gewalt durch die Öffentlichkeit, ohne dass die Justiz vorfiltert, was die Öffentlichkeit zu interessieren hat – siehe zum Beispiel diesen völlig hypothetischen Fall: A streitet sich mit B um die Bezahlung für eine Großlieferung an möglicherweise schlechten Masken. Das scheint zunächst überschaubar interessant zu sein.
      Wenn A aber ein ehemaliger Bundesminister ist und B ein Bundestagsabgeordneter oder ein mit ihm verknüpftes Unternehmen, wird es brisant. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn das Gericht in seiner Entscheidung Konditionen zitiert, die kaum kompetitiv sind, sondern wunderbar lukrativ zu Lasten der öffentlichen Hand gehen könnten. Wenn die Presse nicht aus anderen Quellen oder vom Gericht davon erfährt, entgehen solche Fälle dem demokratischen Kontrollrecht gegenüber der dritten Gewalt. Denn der anonymisierten Entscheidung, wenn sie denn überhaupt veröffentlicht würde (eher unwahrscheinlich), könnte man im Falle einer Veröffentlichung die politische Komponente nicht so leicht ansehen. Deswegen sollten Entscheidungen grundsätzlich unter Nennung der Parteinamen veröffentlicht werden (mit wichtigen Ausnahmen, siehe oben).
      Das ist aus meiner Sicht nicht rechtswidrig, sondern im Gegenteil dringend nötig. Noch besser wäre es allerdings, wenn – wie oft in den USA – die Gerichtsakte tagesaktuell für alle online zugänglich wäre. Aber wie gesagt: Man muss ja nicht alles wie in den USA machen.
      Mir ist das (auch) wichtig.
      Ich finde es hochgradig befremdlich, wenn hier Anfragenden von ihrer Expartnerin mit Klage gedroht wird, obwohl sie nicht mal Namen genannt haben.
      Solch schäbigem Verhalten wird hoffentlich der Boden entzogen, wenn neben Urteilen auch Schriftsätze veröffentlicht werden würden.
      Und vielleicht würden manche Anwälte auch nicht mehr so eskalieren unterwegs sein...

      Man darf ja wohl noch träumen dürfen...

      Gruß Tanja
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